Samstag, 26. Dezember 2015

Gehe hin und lies nicht unvorbereitet -
[Rezension] Gehe hin, stelle einen Wächter - Harper Lee


Caroline Schultz

Mitgerissen von der Wiederentdeckungs-Euphorie im Sommer, bekam ich Lust eine Rezension zu dem lange verschollenen Erstlingswerk "Gehe hin, stelle einen Wächter" (Go set a Watchman) von Harper Lee zu schreiben. Ich muss bekennen, dass ich bis dato ihr berühmtes Werk "Wer die Nachtigall stört" (To kill a mockingbird) vor allem aus dem Schwarzweißfilm-Klassiker von 1962 kenne und nur teilweise selber gelesen habe. 1)

55 Jahre nach Erscheinen des Pulitzer-Preis gekrönten Dramas, halte ich nun "Gehe hin, stelle einen Wächter" in den Händen und bin zunehmend skeptisch. Der Klappentext sagt kaum etwas aus und der Einband ist so matt und langweilig, wie das Papier auf dem er gedruckt wurde. Ich habe das seriös wirkende Werk dann unmittelbar durchgelesen, wobei ich beim Lesen häufig verstört den Kopf schüttelte.
Wochenlang habe ich gezögert und mich davor gedrückt, zu diesem Roman Stellung zu beziehen. Doch bevor das Jahr verstreicht, möchte ich das noch erledigt haben.

Zum Inhalt:
Die Hauptfigur Jean-Louise Finch kehrt als 26-Jährige aus New York für ein paar Wochen Urlaub in ihre Südstaaten-Heimat Maycomb, zu ihrer Familie zurück. Ihr Vater Atticus Finch, inzwischen über 70, ist ein gebrechlicher, aber immer noch angesehener Anwalt. Jean-Louise, besser bekannt als "Scout" aus dem Welterfolg "Wer die Nachtigall stört", ist sich selbst treu geblieben, trägt immer noch lieber Hosen als Röcke und streitet sich mit ihrer Tante um gesellschaftliche Konventionen.
In Rückblicken erzählt Harper Lee aus Scouts Kindheit und malt das Bild einer unschuldigen Jugend, die Jean-Louise alias Scout ungebändigt mit Bruder Jem und Freund Dillon durchleben durfte. Ihr Vater Atticus war zu jeder Zeit ein Idol und die schwarze Nanny Calpurnia ihr sicherer Hafen.
Im Roman schildert Harper Lee aber vor allem das Leben der erwachsenen Jean-Louise, ihre Heiratsüberlegungen bezüglich Jugendfreund Henry. Ihre Nanny Calpurnia ist inzwischen eine alte Frau und hat der Familie den Rücken gekehrt. Ein erstes Vorzeichen dafür, das sich der Wind und die Stimmung nicht zum Guten gedreht hat.
Ein Autounfall ereignet sich. Ein junger Schwarzer überfährt einen anderen weißen Mann.
Calpurnias Familie bittet Atticus Finch um seine Hilfe als Anwalt. Dieser übernimmt den Fall, jedoch nicht aus alter Verbundenheit mit Calpurnia, dessen Enkel den Unfall verursacht hat, sondern aus Sorge darüber, dass ein NAACP-Anwalt (National Association for the Advancement of Colored People) diesen Fall an sich reißen und politisieren würde. 
Jean-Louise missfällt die Haltung ihres Vaters. Der ganze Aufenthalt in ihrem Heimatort Maycomb scheint von Meinungsdifferenzen durchsetzt zu sein. Ihre Umgebung, z. B. der Gemischtwarenhändler wünscht sich, dass sie zu Hause bleibt und nicht wieder nach New York zurückkehrt. Doch Jean-Louise ist von diesem Schritt bei Weitem noch nicht überzeugt.

An einem schicksalhaften Sonntag entdeckt Jean-Louise eine, über alle Maßen rassistische Broschüre in den Unterlagen ihres Vaters. Der Inhalt brüskiert und irritiert Jean-Louise zutiefst. Sie macht sich auf den Weg zum Gerichtsgebäude, wo nach Aussage ihrer Tante eine Bürgerrechts-Versammlung, bei der ihr Vater Atticus Vorsitzender ist, abgehalten wird.
Auf dem Balkon des Gerichtssaals hört Jean-Louise den Vortrag eines Gastredners: Mit Abscheu und Ekel hört sie eine rassistische Hetzrede der schlimmsten Sorte. Dieser gewisse Mr. Grady sieht in einer strikten Rassentrennung das Hauptinteresse der Südstaaten. Er bezeichnet die Schwarzen als strohdumm und eine minderwertige Rasse voller filziger Krausköpfe. Dies zu sagen gestattet ihm die Versammlung, die aus Männern aller Art und Ansehen besteht. Aus Männern mit Gewicht und Ansehen wie Jean-Louise beobachtet, nur Ihr Onkel Jack, Dr. Finch fehlt offensichtlich als Einziger. Jean-Louise versteht die Welt nicht mehr und stellt ihre ganze Familie, allen voran Vater Atticus und Freund Henry in Frage.

"Sie hörte die Stimme ihres Vaters, eine leise Stimme aus der warmen behaglichen Vergangenheit: << Gentlemen, wenn es auf dieser Welt ein Motto gibt, dann sollte es meiner Meinung nach lauten: Gleiche Rechte für alle, Sonderrechte für niemanden.<< "

Den erlebten Schock kann Jean-Louise nur schwer verarbeiten. Sie schwankt zwischen Weglaufen und Auseinandersetzung. Ein Gespräch mit Ihrem Onkel hilft ihr dann wenigstens ein Stück weiter, um die Auseinandersetzung mit ihrem Vater zu suchen. Als Leserin sehe ich in Atticus eine Metapher für die Amerikanische Regierung, in ihrer Rolle als abwägender Entscheidungsträger und auf väterliche Weise verantwortlich. Jean-Louise hingegen vertritt den Teil des amerikanischen Volkes, der tolerant und aufgeklärt ist und verstanden hat, dass der Entwicklungsprozess zu mehr Gleichberechtigung für die Schwarzen unabwendbar, richtig und wichtig ist. Auf der einen Seite gesteht sie Atticus zu: 

"Ich habe noch nie erlebt, dass du Neger so überheblich und respektlos behandelst, wie die Hälfte der Weißen hier unten das tun, wenn sie nur mit Ihnen reden, wenn sie sie auffordern, etwas zu tun" 

dann wieder zieht sie Vergleiche zu totalitären Machthabern.
Im weiteren Verlauf behandelt das Buch die schmerzhafte Abnabelung einer Tochter von ihrem Vater. Am Ende steht die Erkenntnis, das Jean-Louise , "die Farbenblinde", zu eigenem Denken und eigenen Entscheidungen fähig sein muss, auch wenn diese sich nicht mit denen, des von ihr vergötterten Vaters vereinbaren lassen. 

Atticus: "Dir tut es vielleicht leid, aber ich bin stolz auf dich...ich habe jedenfalls gehofft, dass eine Tochter von mir zu dem stehen wird, was sie für richtig hält, dass sie allen voran mir die Stirn bieten wird."

Jean-Louise: "Es geht um Balance. Ich kann ihn nicht besiegen und ich kann mich nicht mit ihm verbünden --


Meinung

Gehe hin und lies nicht unvorbereitet. Das ist mein erster und wichtigster Gedanke zu diesem Buch.

Der Roman, der zeitlich vor "Wer die Nachtigall stört" verfasst wurde, inhaltlich aber daran anknüpft, ist wie eine Zeitkapsel aus der Mitte der 1950er Jahre. Die Zielgruppe, an die sich das Buch ursprünglich richtet, ist eine Leserschaft, die Ort und Zeit aus dem Rückenmark kennt und nicht erst im Hinterkopf nach historischen Ereignissen oder dem Gesellschaftsbild dieser Epoche kramen muss. Harper Lee schrieb unter der Voraussetzung, dass Regeln und Leben im Alabama dieser Zeit bekannt waren. Dieser Umstand macht das Werk sehr authentisch, aber für Menschen mit einem sehr grob gerasterten amerikanischen Geschichtswissen - wie mich - zu einer Herausforderung. 

Scouts Bruder Jem ist tot, sodass er im Roman keine Rolle mehr spielt, auch Ihr Freund Dillon wird nur in Rückblicken erwähnt. Dies ist vermutlich ein Kunstgriff der Autorin, damit
Jean-Louise unangetastet den Mittelpunkt der Geschichte bildet. Welche Intention der Roman eigentlich verfolgt und in welche Richtung die Handlung läuft, bleibt lange Zeit beim Lesen sehr undeutlich. In vielen Einzelszenen werden die Haltung und die Persönlichkeiten der übrigen Figuren: Tante Alexandra, Freund Henry Clinton, Onkel Jack (Dr. Finch) vorgestellt und vertraut gemacht. Ein bisschen Erläuterung findet es dann doch noch, das konservative Leben im Süden, mit Kirchenbesuch, Kleiderordnung und gesellschaftlicher Verpflichtung - Tante Alexandra organisiert für Jean-Louise ein Damenkränzchen, bei dem die Ladys sehr dezent auch über Politik diskutieren, immer im jeweiligen Einvernehmen mit der Meinung ihrer nicht anwesenden Ehemänner versteht sich.
Doch diese Einzelszenen reihen sich ohne ersichtlichen roten Faden aneinander und machen den Roman umständlich.
Trotz allem Kopfschütteln meinerseits hat dieses Buch eine tiefe metaphorische Kraft, die damals und heute an die amerikanischen Bürger appelliert keine vorgefertigten Meinungen zu übernehmen, sondern das unerschütterlich richtige Wertebewusstsein, dass wir alle in uns haben, zu Wort kommen zu lassen und im Sinne einer toleranten und friedlichen Gesellschaft, die Konflikte und Ungerechtigkeiten zwischen Schwarz und Weiß ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen. 
Wenn wir nun aus dem Jahr 1955 einen Schwenk in die Gegenwart machen, müssen wir leider erkennen, dass Amerika zwar einen schwarzen Präsidenten hat, aber auch ein Riesenproblem mit immer wiederkehrenden Rassenunruhen in Ferguson und Baltimore, zurückzuführen auf unrechtmäßige und unverhältnismäßige Polizeigewalt gegenüber Schwarzen.
Die politische Thematik der Rassenkonflikte ist bedauerlicherweise auch im Jahr 2015 noch von erschreckender Relevanz. Das jüngste Ereignis liegt grade mal  vier Tage zurück.

Exkurs: Negative Ereignisse in der Amerikanischen Geschichte:

27.12.2015: Quintonio LeGrier und Bettie Jones. Der Tod zwei schwarzer Menschen in Chicago, ein 19-jähriger und eine 55-jährige Frau (5-fache Mutter) - Sieben Kugeln zuviel!

Am 09.08.2015 starb in Arlington, Dallas der 19-jährige Christian Taylor. Die Polizei schoß auf den unbewaffneten Jungen, der mit seinem Wagen in die Schaufensterscheibe eines Autohauses gefahren war. Christian Taylor

Am 09.08.2014 (genau ein Jahr davor) wurde der Schüler Michael Brown von dem Polizist Darren Wilson erschossen. Die Folge waren die gewaltigsten Unruhen seit 1992.
Hintergrundinfos Historie der Afroamerikaner USA


Am 12.04.2014 Tödliche Polizeigewalt gegen den 25-jährigen Afroamerikaner Freddie Gray.
Ein Bericht des US Jusitzminesteriums belegt, dass die Polizei von Ferguson "routinemäßig"die Rechte der schwarzen Bürger zu mißachtet.
Pulverfass mit kurzer Lunte


Fazit zum Buch:

Ich möchte diesen Roman in kein Sterne-Korsett pressen, das finde ich in diesem Falle besonders schwierig. Die Geschichte hat dem Leser auf jeden Fall etwas zu geben und verfolgt auch eine politisch wichtige Intention. Die Handlung bedingt allerdings eine gewisse Sorgfalt beim Lesen und etwas epochales Hintergrundverständnis ist auf jeden Fall hilfreich. Abgesehen von allen Zugeständnissen, fehlte mir der rote Faden und der Plot schwenkte unvorhersehbar mal hierhin und mal dorthin. Schriftstellerisch war das Erstlingswerk zu spüren und als Unterhaltungsbuch möchte ich es auf keinen Fall empfehlen. In vielen Rezensionen habe ich im Nachhinein gelesen, dass es besser gewesen wäre, man hätte "Wer die Nachtigall stört" (ein Klassiker in allen englischen Klassenzimmern) als Einzelwerk stehen lassen und auf "Gehe hin, stelle einen Wächter" verzichtet.

Ich möchte Euch zwei wunderbare Alternativen zu diesem Roman empfehlen. Zwei Bücher, die sehr viel aussenden und dabei auch noch grandios spannend und unterhaltsam sind. 

Die Farbe von Wasser - James Mc Bride (Berliner Taschenbuch)

10,99 €









Gute Geister - Kathryn Stockett (btb Taschenbuch)
9,99 €











Liebe Grüße und viel Spass beim Lesen 

Eure Caroline Schultz







1) Für die Einordnung ist es wichtig zu wissen, dass "Gehe hin, stelle einen Wächter" inhaltlich in einem zeitlichen Kontext nach "Wer die Nachtigall stört" angesiedelt ist. In der Tat wurde das Buch aber einige Zeit vor "Wer die Nachtigall stört" geschieben.

2 Kommentare:

  1. Moin Caroline,

    Harper Lee habe ich noch nicht gelesen, aber dafür gefiel mir "Die Frb e von Wasser" sehr gut. Eine beeindruckende Frau.

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  2. Oh da kann ich mich nur anschließen, ich habe das Buch vor vielen Jahren gelesen und es hat mich nie mehr losgelassen.
    Liebe Grüße und einen schönen Jahreswechsel!

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